Ich habe gelernt, im Mangel zu leben.

Liv Wach als kleines Kind robbend mit Stuhl am Boden

Tatsächlich wurde mit bereits als Baby beigebracht, auf Mangel zu achten, auf das, was mir fehlt. An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass ich das niemandem zur Last lege – ganz bestimmt nicht meinen Eltern. Sie wussten es nicht anders. Sie sind selbst im Mangel aufgewachsen. Und auch ihren Eltern ging es ebenso. Als Kinder unmittelbar nach oder sogar zwischen zwei Kriegen war es ein Mangel, einer ganz anderen Dimension. So etwas ist immer im Auge zu behalten. Kinder, die im oder unmittelbar nach einem Krieg aufwachsen, erleben so viel Angst und ihnen fehlt es an so vielen existenziellen Dingen, dass sie schwerlich in Fülle sein können. Gerade mit Blick auf die vielen Kriegsflüchtlinge in unserer Gesellschaft ist dies zu beachten. Dieser Mangel wird üblicherweise – und ich neige dazu, zu sagen: natürlich – an die nächste Generation weiter gereicht. Und an die darauf. Einzelne dieser ersten Friedensgeneration mögen bereits in der Lage sein, dies zu erkennen. Ich erlebe, dass die viele Menschen meiner, der zweiten Friedensgeneration, erst mit 30 Jahren oder später diesen Zusammenhang von Mangel, Fülle und die Auswirkungen auf das tägliche Leben begreifen. Immer noch sind es viel zu viele, die nichts davon wissen und den Mangel erneut an ihre Kinder, bereits die dritte Friedensgeneration, weiter reichen. In dem Fall sind Kinder später Eltern und Nachzügler in Familien im Vorteil. Erst in den letzten Jahren, in denen immer häufiger von der Wichtigkeit von Bindungen, Gefühlen und Bedürfnissen die Rede ist, findet bei Eltern und Pädagogen ein Umdenken statt. Das bedeutet, erst die Babys, die heute (oder in den letzten Jahren) geboren werden – die vierte oder sogar fünfte Friedensgeneration – beginnen von Anfang an mehr in der Fülle als im Mangel zu leben. Meine Tochter gehört zu diesen gesegneten Kindern.

  

Was ist ein Bedürfnis?

„Hast du Hunger? Bist du müde?“

Dies sind meist die ersten Fragen, die einem Baby gestellt werden. Sie begleiten ein Kind, nun – meiner Erfahrung nach – bis ins Erwachsenenalter. Doch, sind Hunger und Müdigkeit Bedürfnisse?

Ein Bedürfnis ist etwas, das wir brauchen. Wir brauchen allerdings weder Hunger, noch Müdigkeit. Wir haben Hunger und wir sind müde. Das sind Mangel, das Fehlen von dem, was wir brauchen. Eben dies wird mit den Fragen betont. Der Fokus wird darauf gerichtet, was uns fehlt, anstatt darauf, was wir brauchen – und haben können.

Die passenden Bedürfnisse sind Nahrung und Schlaf oder Ruhe.

 

Typische Mangelsätze

Wie sehr wir vom Mangel geprägt sind und darauf regelrecht programmiert sind, zeigen die folgenden Sätze, die lediglich eine kleine Auswahl sind. Sicherlich kennst du sie, hast sie selbst schon häufig ausgesprochen oder von anderen Menschen, auch deinen Kindern, gehört.

  • „Ich habe Durst.“
  • „Mir ist langweilig.“
  • „Mir ist so kalt.“
  • „Es ist zu heiß.“
  • „Ich bin schlapp.“
  • „Ich fühle mich ausgelaugt.“
  • „Ich bin einsam.“

All das sind Zustände, die einen Mangel beschreiben. Natürlich ist es sinnvoll, diese artikulieren zu können. Erst wenn ein Mensch weiß, was ihm fehlt, kann er herausfinden, was er braucht. Doch genau an der Stelle hakt es. Wir sprechen zu wenig darüber, was gebraucht wird – insbesondere mit unseren Kindern. Viel zu oft erlebe ich Szenen, die sich ungefähr so abspielen:

  • „Ich habe Durst.“ – „Hier hast du etwas zu trinken.“
  • „Mir ist langweilig.“ – „Dann spiel doch mit… .“
  • „Mir ist kalt.“ – „Zieh deine Jacke an.“
  • „Mir ist heiß.“ – „Geh in den Schatten.“
  • „Ich bin schlapp.“ – „Geh‘ an die frische Luft.“ (Oder: „Bist du krank?“)
  • „Ich fühle mich ausgelaugt.“ – „Ruh dich aus.“
  • „Ich bin einsam.“ – „Lass uns reden.“

Kommt dir das bekannt vor? Die Antwort wird vorgegeben.
Unser Gegenüber braucht überhaupt nicht darüber nachdenken, was er braucht. Dabei kommt es vor, dass das passende Bedürfnis überhaupt nicht getroffen wird.

Kinder, die äußern, ihnen sei langweilig, brauchen eher selten eine Aufforderung zum Spiel. Natürlich kann Spiel ein Bedürfnis sein, das hinter dieser Aussage steckt. Ebenso kann es Kreativität oder Inspiration sein. Häufig brauchen Kinder in solchen Momenten allerdings Gesellschaft. Sie wollen dabei sein und mitmachen. Manchmal reicht dann schon eine Anregung. Viel wichtiger ist allerdings die Frage, nach dem Bedürfnis.

 

„Was brauchst du?“

„Ich sehe, dir ist langweilig. Was brauchst du?“

Mit dieser Aussage geben wir unserem Gegenüber die Möglichkeit, darüber nachdenken, was er oder sie braucht. Das lässt sich auch schon mit kleinen Kindern üben – wenn wir Eltern und Pädagogen an dieser Programmierung arbeiten.

Auch mir gelingt dies nicht immer. Viel zu häufig frage ich meine Tochter: „Hast du Hunger?“ Allerdings hänge ich die Frage nach dem Bedürfnis unmittelbar daran: „Möchtest du etwas essen?“ Auf diese Weise lernt sie auszudrücken, was ihr fehlt, ohne den Fokus einzig darauf zu richten.

Inzwischen, da ihr Wortschatz wächst und sie immer öfter selbst entscheiden möchte, frage ich eher: „Was möchtest du essen?“ Auf diese Weise komme ich gleichzeitig ihrem Bedürfnis nach Autonomie und Mitbestimmung nach.

 

DAS IST DAS GEHEIMNIS

Wenn ich meine Aufmerksamkeit öfter auf die Fülle statt den Mangel richten möchte und mir wichtig ist, dass auch mein Kind so aufwächst, brauche ich also nur diesem kleinen Schritt folgen. Ich frage mich immer wieder: „Was brauche ich?“ Und ich frage mein Kind immer wieder: „Was brauchst du?“ Da ich dies täglich übe – und zu Anfang mag es hilfreich sein, sich mit Spickzetteln daran zu erinnern – ändere ich Stück für Stück diese Programmierung, mit der ich seit meiner Babyzeit geprägt wurde. Mit jeder dieser Fragen richte ich meine Aufmerksamkeit mehr auf Fülle, als auf Mangel. Was das mit meinem übrigen Leben macht, ist ein neues Thema.

Mit besten Dank für diesen Beitrag an Sunny Charum (Natürlich miteinander sprechen)

Bild oben: Digital Photo and Design DigiPD.com auf Pixabay 
Bild Stuhl: Ich bei meiner Lieblingsbeschäftigung „Stuhlrobben“